Bewegendes im A-Trane

Manchmal suche ich gelebte Visionen auf. Manchmal finde ich, ohne gesucht zu haben. So geschehen gestern Abend. Unser Sohn Simon hatte uns eingeladen in den Jazz-Club A-Trane zu Thärichens Tentet. Manche der Musiker kennt er von seinem früheren musikalischen Lernen. Ich gehe gerne mit, weil ich die Gesellschaft liebe und mich auf seinen guten Geschmack verlassen kann. Das A-Trane hat die besondere Atmosphäre eines Jazz-Clubs. Wir sitzen nahe beeinander und nahe bei den Musikern. Vielleicht drei Meter entfernt. Aber noch näher sind die Musiker auf der Bühne einander. Es sind wirklich zehn, zehn Männer, fünf mit Blasinstrumenten, dann Piano, Gesang, Gitarre, Kontrabass, Schlagzeug. Und was und wie sie spielen ist unglaublich gut. Jeder ist auf seinem Instrument meisterhaft und originell und das Zusammenspiel ist einfach nur umwerfend.

Seit 20 Jahren machen sie gemeinsam Musik. Schon das ist eine gelebte Vision. Es ist ein Jubiläumskonzert, verbunden mit dem Veröffentlichen der Stücke ihrer neuen CD: no half measures. Alle zehn Musiker haben sich mit eigenen Ideen in das Programm eingebracht, mit Lieblingssongs, über die improvisiert wird, mit Gedichten, die vertont werden, mit eigenen Texten, eigenen Kompositionen. So ist das Programm sehr persönlich und das mag ich. Am Ende des Abends habe ich das Gefühl, jeden Musiker ein wenig kennen gelernt zu haben und von ihm beschenkt worden zu sein. “Riders on the storm“ erklingt ganz neu, ein Song von den Beatles, Gedichte von Joachim Ringelnatz werden musikalisch interpretiert und zu Gehör gebracht. Der unvergleichliche Jazz Sänger Michael Schiefel singt ein Liebeslied für Max, es ist bewegend, der Witz des Allzumenschlichen wird besungen, Lieder für Kinder, ein Lied für Mama und als Zugabe ein Choral. Das Ineinander von Gemeinsamem und die Einzelnen zum Leuchten bringen ist genial. Neben der Vielfalt von Musik und Persönlichkeiten ist es für mich auch eine Vielfalt an gelebter Männlichkeit. Auch in dieser Hinsicht überzeugend und bewegend.

Am stärksten erwischt es mich beim Stück “Mama“ von Nicolai Thärichen. Ich bin nicht die Einzige, die mit Tränen in den Augen da sitzt.

Einige Worte und Sätze, wie ich sie erinnere:


Du gehst in den Nebel und lässt uns zurück in der Klarheit. Du warst uns Leuchtturm Ermutigung, Heimat. Wohin sollen wir jetzt gehen, wenn wir heim gehen? 

Ich halte deine Hand, doch du bist so wenig zu halten wie die Sonne beim Sonnenuntergang.


Ich denke an meine Mutter und Schwiegermutter, die wir verabschieden mussten. Ich denke an meinen Vater, der mit 87 Jahren gut und gerne lebt und zugleich auch phasenweise in den Nebel geht, ob wir es nun Altersvergesslichkeit oder beginnende Demenz nennen. Ich denke an die, die für unser Empinden viel zu jung in den Nebel gehen. Ich denke an Sonja Ruckert, deren Ziel es war, weiterzuleben bis ihre Tochter das Abitur hat. Und das wurde ihr geschenkt und heute habe ich Sophia gesehen. Eine schöne junge Frau, die in Martha im Familiencafé mitarbeitet. Auf der Traueranzeige für Sonja stand:

Unsere Sonne ist untergegangen.

Auf der Danksagung war zu lesen:

Eine neue Sonne wird uns aufgehen.


Ein Tag später:

Nach einem schönen E-Mail Wechsel hat Nicolai Thärichen mir den Text gesendet, mit der freudigen Erlaubnis, ihn hier zu veröffentlichen. Danke!!!


Mama


Geh nicht hinaus in den Nebel,

lass uns nicht im Klaren zurück,

während du langsam verschwimmst.

Geh nicht hinaus in die Ferne,

bleib uns Halt und Zuversicht,

wohin kehre ich heim ohne dich?

Geh nicht in die Dunkelheit,

bleib noch, wer du warst,

als du die Größte warst, an der wir wuchsen.


Du warst der Turm in unserem Leben,

dein Zutrauen strahlte weit.

Du hast gelobt, getröstet, vergeben,

Polarszern unsrer Kindheit.


Nun erkennst du dich selbst nicht wieder,

vergisst, welcher Tag, welches Jahr,

kannst keine Richtung mehr bestimmen,

in der das Festland war.


Ich kann dich noch sehn,

deine Augen lachen wie früher,

für einen Lichtblick lang

erkennen wir uns wieder.

Ich nehm deine Hand,

doch ich kann dich nicht halten.

Du schreitest voran

wie der Sonnenuntergang.